Nr. 7c
[2. Juli 1945]
Aufruf des Geraer Oberbürgermeisters Rudolf Paul zum Empfang der russischen Truppen
Einwohner Geras!
Truppen der Sowjetunion werden in den nächsten 24 Stunden in Gera einmarschieren. Der russische Soldat kommt nicht mit dem Bajonett in der Faust, er besetzt ein Gebiet, das ihm in der Jaltakonferenz als Besatzungszone eingeräumt worden ist.
Darum ist kein Grund gegeben, seinem Kommen mit Schrecken entgegen zu sehen. Die russische Armee ist diszipliniert, und nur so konnte sie solche entscheidenden Siege dieses Weltkrieges erringen. Streift die Furcht ab, in die Euch Göbbelsche Lügenpropaganda durch die vielen Jahre hindurch mit dem Ziele gemeinster Irreführung gehüllt hat.
Ihr könnt natürlich im russischen Soldaten wie in keinem der alliierten Armeen einen Freund erwarten, denn zuviel an blindwütiger Zerstörung, an skrupellosem Mord und tiefstem Leid wurde ihm und seinem Lande durch Hitlerbanditen zugefügt.
Ich glaube an die Zusicherung des Moskauer Senders, daß nicht jenes Gesetz gelten wird: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Seht im russischen Soldaten das, was er ist: den Befreier von den Sklavenketten der Nazis!
Durch Hitler und seiner Kumpanen Schuld haben wir die Welt mit allen Schrecken des Krieges überzogen, um diesen Krieg zutiefst zu verlieren. Es ist ein Gebot der Stunde, die Auswirkung des verbrecherischen Tuns der Nazis, an dem große Teile des deutschen Volkes schuldig sind, als einen der schwersten Schicksalsschläge unserer Geschichte mit Haltung hinzunehmen.
Einwohner Geras! Während der 12 Jahre Hitlerscher Diktatur war ich in meiner Vaterstadt ein Verfemter und mußte verfolgt abseits jeglichen Geschehens leben.
In dieser entscheidenden Schicksalsstunde unserer Stadt bin ich mitten unter Euch. Als Oberbürgermeister Geras vertraue ich das Geschick unserer Heimat und unserer Familien dem russischen Oberbefehlshaber an. Ihr aber, die Ihr nicht mit dem neuzeitlichen Lippenbekenntnis, sondern aus tiefstem Innern heraus von jeher Feinde des Hitlerregimes wart, empfindet diese Stunde als das, was sie ist: als Begegnung mit dem Soldaten, der Euch von den Ketten der Sklaverei, den Quälereien der Konzentrationslager und den Verfolgungen der Gestapo befreite.
Dr. Paul
Oberbürgermeister
Quelle: Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Bezirksparteiarchiv der SED Erfurt, V/614-003, Bl. 76r (gedruckt); auch überliefert in: Stadtarchiv Gera, III F 4, Nr. 072 u. III F 58, Nr. 012 sowie Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, NL Johannes Brumme, Nr. 3, Bl. 169r.