5./9. August 1945
Bericht der „Thüringer Volkszeitung“ (KPD) über die Kranzniederlegung und Ansprachen des SMATh-Chefs Wassili I. Tschuikow und des Landespräsidenten Rudolf Paul an den Särgen Goethes und Schillers
Die Rote Armee ehrt Goethe und Schiller
Kranzniederlegung des Garde-Generaloberst Tschuikow an der Grabstätte der größten deutschen Dichter in Weimar – „Es lebe die Sonne, verschwinde die Finsternis“
W e i m a r. Am Sonntag, dem 5. August, ehrte die Rote Armee die größten deutschen Dichter Goethe und Schiller durch Kranzniederlegung an ihrer Grabstätte in Weimar. Der Chef der Militäradministration für das Land Thüringen, Garde-Generaloberst Tschuikow, würdigte in einer kurzen Rede das Schaffen und Streben der beiden großen Deutschen. In großer Zahl waren Mannschaften und Offiziere der Roten Armee erschienen. Ferner nahmen die Mitglieder der zivilen Verwaltung des Landes Thüringen mit dem Landespräsidenten Dr. Rudolf Paul an der Spitze und Vertreter der Weimarer Künstlerschaft und Kulturschaffenden an der Kundgebung teil. Weiterhin waren alle Teilnehmer der am gleichen Tage in Weimar tagenden Funktionärskonferenz der Kommunistischen Partei Thüringen erschienen.
Obwohl die Gedächtniskundgebung nicht besonders bekanntgemacht worden war, hatten sich dennoch viele Weimarer Einwohner eingefunden und wurden Zeugen des Verständnisses der Offiziere und Mannschaften der Roten Armee für das Schaffen Goethes und Schillers. Wurden Zeugen der Manifestation an der Grabstätte der beiden Großen der deutschen Kunst und Wissenschaft: die Rote Armee ist Förderer und Beschützer aller wahren Kultur in ehrfurchtsvoller Achtung aller schaffenden und friedliebenden Völker.
Es ist sicherlich sehr wenigen des ehemaligen Hitlerdeutschland in Weimar und ganz Thüringen bekannt, daß die Werke Goethes und Schillers in der Sowjetunion vor vielen Jahren schon als Volksausgabe herausgegeben worden sind. Es ist die für jeden guten Deutschen beschämende und zugleich erfreuliche Tatsache zu verzeichnen, daß demSowjetvolk Goethe und Schiller viel näher gebracht wurden, als in Deutschland, insbesondere zu Hitlers Zeiten, den Werktätigen des deutschen Volkes.
Wie es überhaupt wenigen Menschen in Deutschland bekannt sein dürfte, daß in der Sowjetunion viel die Werke großer deutscher Dichter und Wissenschaftler gelesen und studiert werden.
Wie kraß steht dieser Pflege aller deutschen Kultur die für uns so beschämende Tatsache gegenüber, daß vor wenigen Monaten auf Befehl Hitlers erst die Särge der beiden großen Dichter Goethe und Schiller aus der Gruft in Weimar nach Jena verschleppt worden waren und dort beim Heranrücken der Alliierten Truppen zerstört werden sollten. Daß die Sprengung nicht erfolgte, ist nur dem Umstand zu danken, daß der mit der Zerstörung beauftragte Jenaer Arzt im letzten Augenblick vor dieser Untat zurückschreckte.
Nun stehen Offiziere und Mannschaften der von den nazistischen Lügenpropagandisten immerfort verleumdeten Roten Armee an der Grabstätte der großen deutschen Dichter und ehren und achten sie durch ihre Kranzniederlegung.
Garde-Generaloberst Tschuikow
Genossen! Rotarmisten! Offiziere und Generale der Roten Armee!
Bürger der Stadt Weimar!
Unverlöschtes Licht der russischen Poesie, Alexander Serge[j]ewitsch Puschkin, schrieb einmal unvergeßliche Zeilen: Es lebe die Sonne, verschwinde die Finsternis! Nach der Machteroberung in Deutschland wollte die Naziclique die Sonne der Weltkultur löschen, wollte die Dunkelheit der Barbarei des Mittelalters und der Bestialität errichten. Das Deutschland Goethes und Schillers wollten die Hitleristen in ein Deutschland von blutigen Mördern eines Goebbels, Görings, Himmlers, Ribbentrops
Einst schrieb der große deutsche Dichter Schiller sein unsterbliches Stück „Kabale und Liebe“, das die siegreiche Kraft der Liebe verkündete.
Die Hitlerclique setzte der Menschenliebe die Hinterlist und den Menschenhaß entgegen und schrieb dies auf ihre Räuberfahnen.
Der Landmann und Mitbürger Schillers, der große Goethe, schrieb: Das ist der Weisheit letzter Schluß, nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß.
Die Hitlerclique ist vernichtet. Es gelang ihr nicht, die Sonne auszulöschen, es gelang ihr nicht, der Finsternis auf der Erde zur Macht zu verhelfen. Es gelang ihr nicht, die Menschengedanken zu erlöschen, und mit neuer Kraft klingen jetzt die Worte der großen deutschen Dichter Goethe und Schiller, die mit ihrem flammenden Wort gegen die schwarzen Mächte des Mittelalters kämpften, welche die Hitlerbanditen auferwecken wollten.
Liebe und nicht Hinterlist werden jetzt leben. Und nur derjenige wird des Lebens und der Freiheit würdig sein, der jeden Tag für sie kämpfen wird, kämpfen gegen den Rest des Faschismus und seiner Giftideologie, des Menschenhasses.
Das Sowjetvolk, das im Kampfe mit den deutsch-faschistischen Okkupanten seine Freiheit, seine Ehre, seine Unabhängigkeit und seine vielhundertjährige Kultur erhalten hat, schätzt auch die Kultur anderer Völker.
Die Rote Armee vernichtet die Kulturwerte nicht, sondern schützt sie; weil die Rote Armee die Armee des führenden, des kulturellsten Volkes ist.
Im Namen der Roten Armee, die das faschistische Deutschland zerschlagen und die Fahne des Sieges über Berlin gehißt hat; im Namen der Stalingrader Gardisten und im Namen der Sowjet-Militäradministration lege ich diese Kränze auf die Grabstätte der größten deutschen Dichter, der Kämpfer für den Triumph des Menschengeistes, Goethe und Schiller.
Landespräsident Dr. Paul
Im Namen des Landes Thüringen danke ich Ihnen, Herr Generaloberst, für die Ehrung der Männer, die in dieser Zeit deutscher Schmach noch bei den anderen Völkern geachtet werden, und die zu denen gehören, die noch ein moralisches Kapital für uns darstellen, jetzt, wo die Welt mit Verachtung auf uns sieht, weil wir uns von ihren fortschrittlichen Ideen abgewendet haben.
Was waren uns Goethe und Schiller, was sollen sie uns wieder sein? Wir Antifaschisten wollen in Goethe nicht nur den großen Dichter deutscher Sprache wieder ehren, sondern dengroßen Menschen überhaupt, und in Schiller den Dichter der Freiheit.
Wie der junge Goethe in seinen Dichtungen in einer verstandesmäßig erstarrten Zeit neues Lebensgefühl stürmisch zum Durchbruch gebracht hat, so hat der reifende Mann in der Iphigenie das Ideal reiner Menschlichkeit verkündet, so hat der Greis in seiner größten Dichtung, im „Faust“, das immer strebende Bemühen als Forderung aufgestellt: „Tätig zu sein ist des Menschen erste Bestimmung“ und „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“; diese Gedanken durchziehen sein gesamtes Lebenswerk. Der weltoffenen Humanität, Toleranz und Güte seines Herzens entsprach seine Liebe zur Kunst und vor allem zur Natur. Diese ließ ihn brüderlich in die organische Entwicklung von Steinen, Pflanzen, Tieren, von Wolken, Licht und Farben eindringen und führte ihn auf diesen Gebieten zu wichtigen Forschungsergebnissen.
Zu einer solchen universellen Erscheinung eines großen Weltbürgers stand der Hitlerstaat im schroffsten Gegensatz. Goethe wurde beiseitegestellt.
Mit dem Namen Goethe ist der seines großen Zeitgenossen Schiller unlöslich verbunden. Mit heißem Atem wandte Schiller sich in seiner Jugend gegen fürstliche Willkür, die ihn beinahe auf den Hohenasperg in jahrelange Kerkerhaft gebracht hätte, der er sich nur durch die Flucht aus dem engeren Vaterland entziehen konnte. Er ließ nicht ab, seine freiheitlichen Forderungen in leidenschaftlicher Form in seinen Dichtungen zum Ausdruck zu bringen und die Würde des Menschen zu wahren.
Für uns heute gibt es nur ein entschlossenes Zurück von dem Weg von gestern, zurück von dem Abgrund der Barbarei, in den dieser Weg uns geführt hat. Wir müssen Einkehr halten und umkehren zu den Menschheitsgedanken unserer Klassiker und sie verbinden mit den Ideen aller freiheitlichen großen Menschen.
In diesem Geiste treten wir an die Aufgaben unserer Zeit heran. Wir fassen sie zusammen mit dem hohen Wort einer neuen Demokratie.
[…]
Während der Kranzniederlegung intonierte eine Kapelle der Roten Armee den Beethovenschen Trauermarsch. Der Generaloberst Tschuikow und die höchsten Herren seiner Begleitung sowie der Schriftsteller Nicolai Wirta legten persönlich die Kränze auf die Sarkophage Goethes und Schillers nieder und verharrten dann in einigen Minutenvollkommenen Schweig ens.
Quelle: Thüringer Volkszeitung, 9.8.1945.