Nr. 58g
15. Oktober 1945
„Nur aus dem Geistigen kann eine Wiedergeburt kommen!“ Eröffnungsansprache Rudolf Pauls beim Festakt im Jenaer Volkshaus
Herr Generaloberst!
Meine Herren Offiziere der Roten Armee!
Meine Herren Präsidenten der deutschen Länder!
Magnifizenz!
Sehr verehrte Damen und Herren!
Arbeiter und Kommilitonen!
Ein feierliches Präludium hat diese Stunde eingeweiht, die Stunde der Neueröffnung der universitas litterarum jenensis. Freude ist in jedem von uns. Kein Fest des Kalenders löst diese stille, diese innere Freude aus, sondern ein Anlaß ganz besonderer, ganz besonders begründeter Art. Inmitten einer entgötterten Welt, zwischen zerbrochenen Menschen, zertrümmerten Heimstätten, zerrissenem Vaterland, faßt unser Thüringen, unser Land den Mut, durch geistige Kräfte dem deutschen Volke zu ersetzen, was es an physischen verlor. Nur aus dem Geistigen kann eine Wiedergeburt kommen.
400 Jahre Universität Jena und mit dieser vierhundertjährigen Geschichte eines Suchens nach Wahrheit, nach Erkenntnis verknüpfen sich drei große kriegerische Ereignisse, drei vernichtende Niederlagen in der deutschen Geschichte. Johann Friedrich von Sachsen, unfähig als Stratege verlor in der kläglichen Schlacht bei Mühlberg die deutsche Sache gegen den spanischen Feldherrn Alba. Geschlagen, gefangengenommen saß dieser einstmals größte deutsche Landesfürst im Burgkeller, und in diesen Stunden der Schmach, der Niederlage, der zerschmetterten Hausmacht kam ihm die Erkenntnis, daß nicht mit dem Schlachtschwert in der Faust, nicht mit der zum Stoß eingelegten Lanze, sondern nur aus dem Geistigen heraus die Wiedergeburt eines Verlorengegangenen erfolgen könne. Derselbe Johann Friedrich, der unfähig als Stratege die Übergänge über die Elbe nicht verteidigte, er bewies sich als Mann, als wahrer Mann auf einem völlig anderem Gebiet. Selbst in tiefster Not stehend wurde er zum Gründer der Universität Jena.
Jahrhunderte gingen hin. Professoren und Studenten, Geschlecht nach Geschlecht kamen und gingen. Da erlebte die Universität Jena, um mit Goethe zu reden, „die Zeit ihres höchsten Flors“. Schiller, Fichte, Hegel, Feuerbach und die Gebrüder Schlegel, der Betreuer der Universität Goethe waren Persönlichkeiten in einer Größe und in einer Fülle, wie sie keine deutsche Hochschule aufzuweisen hat.
Doch dieser Flor wurde zerstört. In der Doppelschlacht von Jena und Auerstädt brach Preußens Gloria unter den Salven Napoleonischer Geschütze erbarmungslos zusammen. Wieder einmal lag die deutsche Sache zutiefst am Boden. Und Jena begann wieder zu arbeiten, zu forschen, zu leisten. Abbe, Carl Zeiß, Schott, Haeckel trugen den deutschen Namen in die Welt. Dann kam dieser erste Weltkrieg, von dessen Niederlage wir uns nie ganz erholten, und dann die Vorsehung, sie hieß Hitler.
Bevor ich ihn und sein Wirken streife, darf ich ein Erlebnis an der Universität Jena erzählen.
Im Jahre 1934, die Nazisten hatten mich um öffentliche Ehre und Brot gebracht, ging ich aus einem inneren Drang in meine einstige Universität. Über der Treppe, an der ich einst als Student eine Meute aufgehalten hatte, welche ein Kunstwerk von Ruf, das Bild des Schweizer Malers Hodler zerstören wollte,
Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist ein kleiner Schritt.
Die Nazis haben in Jena wie auch sonst sehr laut getönt von Freiheit, man hat der Universität den Namen des Freiheitsdichters Schiller beigelegt, doch im selben Augenblick drehte man die Knebel für Hand und Mund, und Deutsche waren es, die Deutsche fesselten, sie ins Gefängnis, ins Zuchthaus, ins Konzentrationslager, in die Schlinge des Henkers brachten. Mea culpa gravissima culpa, die Schuld an allem was kam, war im tiefsten bei uns selbst begründet. – „Erst log allein der Hund, dann lügen ihrer Tausend und wie ein Sturmwind brausend, so wuchert jetzt sein Pfund“. Gottfried Keller, in deinem Gedicht „Die öffentlichen Verleumder“ hast du prophetisch diesen Menschen vorausgesehen, der Deutschlands, Europas größtes Unglück werden sollte. Verlogen, von Eitelkeit und Ehrgeiz zerfressen, selbstsüchtig und kaltherzig, ein Mensch mit bronzestirniger Frechheit und einer noch nie dagewesenen gehässigen Intoleranz war der Führer aller Deutschen. Ein Jahrzehnt lang der Gott in diesem Land. Was war ein Gessler-Hut gegenüber diesem widerlichen Heil Hitler, das jeden Gruß des Tages und der Höflichkeit ersetzte? Allem Reden zum Trotz, gibt es in der Welt ein Gewissen und dieses Weltgewissen hat sich gegen diesen hohen Priester des Nazismus, diesen Mann des Meineides, des Massenmordes, der brennenden Erde empört. Bomben waren die äußere Quittung für Jena und seine Universität.
Magnifizenz, Respektabilitäten, professores: es ist an Ihnen, zur Urquell dieser Universität zurückzukehren. Der erste deutsche Fürst, der seinem Lande eine Verfassung gab und welcher der besondere Betreuer dieser Universität war,
In die Rumpelkammer, auf den Scheiterhaufen mit allem Tendenzwissen der Rassen- und Mythoslehre der Herren Günther und Rosenberg!
Kein unnützes Rückwärtsblicken, kein übermäßiges Haften an bloßem Traditionsmäßigen. Zu neuen Ufern muß der neue Tag auch unsere Universität locken und führen. Wir wollen noch nicht „weltmüde“ im Sinne Spenglers sein. Unsere Wissenschaft sah bisher fast ausschließlich nach dem Westen und dem Süden und vernachlässigte darüber den Osten. Goebbels hat uns viel von russischer Barbarei und Unkultur erzählt. Russische Hilfe steht mir zur Seite, wenn ich diese Universität aus Schutt und Asche wiedererstehen lasse. Es ist primitivster Anstand, wenn ich als Präsident des Landes Thüringen in aller Form und feierlich erkläre, daß allen Lügen zum Trotz die Sowjet-Militär-Administration mich in meinen Mühen, das Land aus Chaos und Rechtlosigkeit in den Zustand der Ordnung und des Rechtes zurückzuführen, weitgehend unterstützt.
Magnifizenz und Professoren, lassen Sie den Namen universitas litterarum wieder zum Wahren werden. Die Universitäten haben in den letzten Jahrzehnten einen falschen Weg eingeschlagen. Sie sind förmlich zu Fachschulen akademischen Grades herabgesunken. Ich bin mit ihnen dahin einig, daß es nicht Aufgabe einer Universität sein kann, junge Menschen mit umfangreichem Flachwissen in die Welt hinauszuschicken. Aber ebensowenig darf eine Universität einseitige Spezialisten züchten, die, wenn sie nicht vom „Fach“ sprechen, komische Figuren des täglichen Lebens sind. Ich gehöre zu der Fakultät, deren Jünger in falscher Überheblichkeit sich als die Garde unter der Studentenschaft fühlen. Volksfremde Justiz möchte ich als Überschrift über unser Rechtsleben setzen. Hier spreche ich aus ureigenster Erfahrung: wandelnde Nachschlagewerke über einige tausend Paragraphen, Bibliothekstürme, vielfach Menschen ohne Blut. – Und eine andere Fakultät, die der Herren Pädagogen frage ich, wieviel Menschen gibt es, die sich gern der Schulzeit erinnern? Die Antwort darauf ist der Richterspruch über die Wertigkeit unserer bisherigen geistigen Erziehungsanstalten.
Magnifizenz und professores, geben Sie lebensnahe Menschen, geben Sie Charaktere von echtem Metall dem deutschen Volke, unserem Land zurück! Machen Sie aus den jungen Studenten freie sittliche Persönlichkeiten mit einem offenen Blick fürs Leben und innerlich fundierten reinem Wissen.
Lehren Sie vor allem objektive Geschichte. Nur zu oft ist unsere Geschichtslehre der beschönigende Advokat des Erfolges. Der jahrhundertelang auf unseren Schulen eingeimpfte Satz: dulce et decorum es pro patria mori, es ist süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben, hat in seinem mißverstandenen Inhalt und in seinem Mißbrauch nur zu oft die Blüte unserer Jugend sinnlos auf den Schlachtfeldern hinmähen lassen. Deutsche Geschichte, wie sie die Jugend in den letzten zwölf Jahren gelehrt bekam, war ein Gewebe zweifelhaftester Art, eines aus Lug und Trug. Ich gehöre nicht zu jenen Selbstzerfleischern, die immer nur das Schlechte und das Schuldhafte bei uns sehen und in falsch verstandenem Offenbarungsdrang vermeinen, immer und immer wieder laut unsere Schuld in die Welt hinaus schreien müssen. Ich weiß, der Strom von unsagbarem Elend und Tränen, der fast die ganze Welt durchfließt, ist bei uns entsprungen. Klageweiber sind billig, Heulderwische eine zweifelhafte Erscheinung. Durch die Tat müssen wir gutmachen, werden wir verlorenes Gelände in der Achtung der Welt zurückgewinnen.
An Ihnen, Magnifizenz und professores, ist es, unseren jungen Studenten das geistige Rüstzeug mit auf den Weg zu geben, das sie befähigt, eine Bresche in den Ring der Achtung zu schlagen, der uns von seiten der ganzen Welt umschließt.
Und nun zu Euch, Studenten und Studentinnen, zu Dir deutsche Jugend! Ich lege alle Würden und Titel ab, um unbefangen mit äußerem Schein unter Euch zu treten. Ich will in dieser Stunde ein Band des Verstehens zwischen uns knüpfen. Vor Euch, Ihr jungen Menschen, liegt Euere zertrümmerte Welt. In ihr seid Ihr groß geworden. Ihre Lehren galten über ein Jahrzehnt, für Euch eine lange Zeit, als unantastbar, diese Lehren wurden Euch eingeimpft, eingedrillt. Jetzt schreien Euch Schutthaufen jedweder Art an. Und wie so oft in dieser Welt taucht die Frage auf: wo ist Wahrheit?
Es ist für mich unendlich viel leichter als für Euch, den Weg aus dem Trümmerfeld zu finden. Denn ich habe die Möglichkeit des Vergleichs. Als ich jung war wie Ihr, Student an der Universität Berlin, ritt im Kürass der Garde du Corps umgeben von den blitzenden Garden der königlich-preußischen Armee ein imperator rex vom Tempelhofer Feld ins Schloß. Dann erlebte ich die Republik von Weimar, den ethisch wertvollen Gehalt ihrer Verfassung, die erbarmungswürdige Schwäche ihrer Regierungen und die politische Unreife unseres Volkes. 1933 kam der sogenannte starke Mann, der für jeden Sehenden vom ersten Tage seines sogenannten Regierens an unser Volk in den furchtbarsten Zusammenbruch unserer Geschichte führen mußte und geführt hat.
Es ist kein Zufall, daß ich im ersten Teil meiner Ausführungen das kriegerische Geschehen, das mit dem Werdegang unserer Universität verknüpft ist, hervorgehoben habe. Durch ein Jahrhundert hindurch ist von Geschichtsstunde zu Geschichtsstunde, von der einen Nummer der Zeitung zur nächsten, in ungezählten Vorträgen und Reden die militärische Macht als Abgott gepriesen worden. Es gehört eine im Leben nur selten vorkommende Reife dazu, um sich von solchen Einflüssen freizuhalten. Wir wollen ehrlich zueinander sein, um Vertrauen zueinander zu gewinnen, und darum sage ich Euch, als ich so jung war wie Ihr, war ich ein anderer als heute. Wir deutschen Studenten von damals sind gläubig, wie Tausende und Abertausende, in den ersten Weltkrieg gezogen. Wir hatten keine Reichtümer zu verteidigen. Wir dachten nicht an Wilhelm den Zweiten oder an unseren Landesherrn Heinrich den Ungezählten von Reuß,
Wenn ich heute den Glauben an die Jugend habe, so gibt mir den Mut zu einem solchen Glauben und Hoffen die Tat der Geschwister Scholl an der Universität München. In einer Zeit, in der noch größte Teile des deutschen Volkes nicht nur in äußerlicher, sondern auch in innerlicher Ergebenheit Hitler anbeteten, warfen sie die Flugblätter vom „Massenmörder von Stalingrad“ in den Lichthof der Universität, mitten in die Menge der Studenten. Geschwister Scholl, junge Menschen vom Blut her, aus einer inneren Not heraus handelnd, wollten das Schicksal des deutschen Volkes in seiner letzten grausamen Härte abwenden. Sie verloren darüber ihr Leben, ihre Tat bleibt bestehen.
Deutsche Jugend, Dich frage ich in dieser Stunde, wer ist von der Führerclique geschichtlich gesehen eine Persönlichkeit? Wo sind hier volle Menschen? Wo ist ein einziger, der menschliche Teilnahme weckt? Nichts von alledem, bestenfalls Chargenspieler, Figuranten, Komparsen. Auf einem Gebiete allerdings sind die meisten dieser Clique vollgewichtige Herren: auf dem des Verbrechens.
Nach zwölf Jahren Sauckelscher Regentschaft stehe ich an der Spitze dieses Landes. Seine Not ist mir vertraut. Kommilitonen, wenn irgendwo, von irgendwelchem Schiffe auf den weiten Weltmeeren der allbekannte Hilferuf SOS ertönt, dann fahren alle Schiffe, gleich welcher Nation mit voller Fahrt an den Platz der Not. An Euch ergeht nicht von irgendwelcher Stelle, von irgendwelcher der Ruf irgendeiner Not, sondern als der Präsident eines deutschen Landes rufe ich Euch zu: Euer Land, unser deutsches Volk ist in Not!
Diese Not ist nicht nur eine äußere, über die wir bei dem selbstmörderischen Zerstörungswahnsinn des verflossenen Naziregimes dessen ureigenste Parole setzen „Das verdanken wir dem Führer!“, sondern diese Not ist auch eine innere, eine geistige. Werft verflossenes Ideengut, diesen Ballast der Lüge, von Euch. Geht vor Euch Euer Land, Euer Volk!
Gibt es etwas ethisch Höheres als durch Mitarbeit auf geistigem, auf jeglichem Gebiet die Not des eigenen Volkes zu beheben? Ich komme im Lande umher. In den Altenburger Kohlengruben stand ich zwischen Thüringer Bergarbeitern, sie waren nicht gut genährt, die Lebensmittelvorräte unseres Landes jagten Hitlers Kämpfer bis zur letzten Patrone in die Luft, und doch, was ist das Ergebnis ihrer Arbeit? 118 % Tagesförderung! – Ich war in der Brabag mit ihren 8000 Bombentreffern, Thüringer Arbeiter, thüringisches Material sind dort hervorragend eingesetzt worden. 80 to Benzin war der Tagesausstoß vor wenigen Monaten, heute 600 to pro Tag. Die Friedensleistung!
Und so kämpfen in dem von Bomben zerfetzten Rositz, in der Zellwolle in Schwarza, in der Firma Zeiß und Schott, in den Olympiawerken in Erfurt, in den Eisenbahnreparaturwerkstätten, den Kalischächten, allüberall Thüringer Arbeiter mit zusätzlichen Schichten gegen den Gedanken der Lethargie, des Abgleitens oder gar des Unterganges.
Studenten, deutsche Jugend, steht hinter solchen Leistungen nicht zurück, steht zu Eurem Volk, steht zu seiner Not! Die Geschichte der Wissenschaft ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach einfallen. Einstmals überwogen die Stimmen Deutschlands im Chor. Heute sind sie fast völlig daraus verschwunden.
Nur aus dem Geistigen kann eine Wiedergeburt kommen! Magnifizenz und professores, Kommilitonen und deutsche Jugend, es gilt auf geistigem Gebiet verlorenes Gelände wieder zu gewinnen. Schafft durch Suchen nach Wahrheit, nach wirklichen Werten, schafft durch voraussetzungslose Wissenschaft die Grundlage für einen solchen Rückgewinn.
Ich grüße Euch, ich grüße die neuerstandene universitas litterarum jenensis.
Quelle: Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Land Thüringen - Büro des Ministerpräsidenten, Nr. 1778, Bl. 11r-17r (ms. Ausfertigung); abgedr. in: John u.a.: Die Wiedereröffnung (1998/D), S. 262-268.