Nr. 144
[17. Mai 1946]
Bericht des hessischen Wirtschaftsministers Rudolf Mueller über seine SBZ-Reise vom 7. bis 12. Mai 1946
17.5.46
V e r t r a u l i c h !
Reise in die russisch besetzte Zone vom 7.5.1946 nachmittags bis 12.5.1946 nachmittags.
1. Von offiziellen Persönlichkeiten habe ich gesprochen:
a) in Weimar: Präsident Paul
Präsidialdirektor Staas
Vizepräsident Busse
Biedermann und Dr. Seeliger
General Kolesnitschenko und Landesdirektor Frommhold
Dr. Fischer ausführlicher in Gera;
b) in Halle: Präsident Hübener
Vizepräsident Thule
Wirtschaftsreferent Dieker, Industrieabteilung Bockmühl
Oberbürgermeister Mertens
c) in Dresden: Präsident Friedrichs
Vizepräsident Selbmann
Staatssekretär Lang
in Leipzig ferner noch Vizepräsident Gaebler;
d) in Leipzig: Oberbürgermeister Zeigner
Dr. Pröpper und andere vom Messeamt
Ministerialdirektor Protze;
e) aus Berlin in Leipzig: Oberbürgermeister Werner
von der deutschen Zentralverwaltung in der sowjetischen Zone:
Präsident Buschmann (Handel und Versorgung)
Friedensburg (feste u. flüssige Brennstoffe)
Schiffer (Justiz)
Schröder (Post)
Skrzypczynski
Dr. Breitenfeld (Interzonen- und Aussenhandel)
Müller-Burg (Brennstoffe)
Ulbricht und Fechner
Stol[t]zenberg
f) aus dem Westen sprach ich in Leipzig u.a. Staatssekretär
Fischer, München
Senator Borgner, Hamburg
Senator Bucelius, Hamburg
Frl. Meyer, Stuttgart:
g) in Chemnitz: Oberbürgermeister Müller
Bürgermeister Grimme
Handelskammerpräsident Bertsch;
h) schliesslich auf der Messe, im Land Sachsen, in der Provinz Sachsen und im Land Thüringen zahlreiche Personen aus allen Bevölkerungsschichten und Parteirichtungen.
Besuchte Städte: Weimar, Leipzig, Halle, Leuna, Dresden, Chemnitz, Oberlungwitz, Hohenstein, Zwickau, Crimmitschau, Gera.
2. Dies war meine dritte Reise in die russisch besetzte Zone innerhalb der letzten Wochen. Danach glaube ich, nunmehr ein einigermassen zuverlässiges eigenes Urteil über die Verhältnisse gewonnen zu haben. Ich gebe zunächst unter einzelnen Stichworten die Ergebnisse (a – n) aufgrund der letzten Reise und anschliessend eine Zusammenfassung (3.).
a) Provinzen, Länder und Zentralverwaltung.
Die Zone besteht bekanntlich aus fünf Verwaltungseinheiten: Mecklenburg-Vorpommern (wirtschaftlich ohne besonderes Interesse für uns – landwirtschaftlich heute Zuschussgebiet!), Berlin-Brandenburg (in besonders schwieriger Lage, Berliner Industrie ist mangels Hinterlandverbindung zu anderen Landesteilen ziemlich am Ende – bei Sicherung von Rohstoffen und Energie für uns interessant für Elektrotechnik, Maschinenbau, Feinmechanik), Provinz Sachsen (günstige Lage, landwirtschaftlicher Überschuss und Grosserzeugung von Braunkohle, Energie, Chemie – von grossem Interesse für uns), Land Sachsen und Land Thüringen (ersteres in etwas schwierigerer Lage als letzteres, Ernährungsfrage gerade noch erträglich, überwiegend Veredlungsindustrie, besonders Textilindustrie in Sachsen). In der Provinz Sachsen ist Anhalt aufgegangen, zum Land Sachsen wurde der Görlitzer Bezirk zugeschlagen.
Die Zentralverwaltung hat kein Weisungsrecht an die fünf Landesteile beansprucht, praktisch aber ein solches. Die Zentralverwaltung ist sehr gross aufgezogen und in allen Referaten mit der russischen Militärverwaltung Karlshorst parallel organisiert. Ein Zonenrat der Landesteile ist bisher nicht zustande gekommen. Die Provinz Sachsen ist auf Zusammenarbeit mit der Zentralverwaltung eingestellt, die Länder Sachsen und Thüringen suchen ihre Selbständigkeit zu wahren. Unter diesen Umständen sind Abmachungen mit der Zentralverwaltung wertlos, wenn nicht die Landesverwaltungen beteiligt werden. Eine offizielle Besprechung kam in Leipzig überhaupt nicht zustande. Ich habe aber mit der Zentralverwaltung und allen drei Landesregierungen (beide Sachsen und Thüringen) mit dem Ergebnis verhandelt, dass wir bis Ende Mai mit der Zentralverwaltung, unter Benachrichtigung der drei Landesverwaltungen, Bedarfs- und Angebotslisten der beiden Zonen austauschen und Anfang Juni in Berlin förmlich verhandeln. Berlin holt für die russische, wir für die amerikanische Zone die Zustimmung der Militärregierung ein. Ende dieser Woche werde ich auch mit Dr. Pollock,
b) Interzonenhandel.
Präsident Buschmann referierte hierzu zur Eröffnung der Leipziger Messe. Er verlangte Regelung folgender Fragen: Transporte, durchgehende Tarife, Reiseverkehr, Zahlungsverkehr durch Clearing, was eine Ordnung der Währungsfrage voraussetze und Freistellung von Waren für den Interzonenhandel innerhalb der Planung. Ich sagte B. zu, dass alle diese Fragen bei uns kein Problem, bezw. geklärt seien; Clearing lehnten wir allerdings ab und ganz bestimmt eine vorherige Ordnung der Währungsfrage. Unsere Anfänge mit Thüringen sind ausserhalb von Thüringen kaum bekannt. Der entsprechende Teil eines Presseinterviews von mir wurde nicht gedruckt, obwohl der Journalist der Sächsischen Zeitung auf meine Frage ausdrücklich betonte, dass man sehr gerne auch kritische Bemerkungen bringen würde.
c) Planung.
Längere Zeit sprach ich hierüber mit dem zuständigen Präsidenten Skrzypczynski von der Zentralverwaltung. Er und andere Stellen waren erstaunt, dass wir auch Planwirtschaft machen und bereits ausgedehnte Unterlagen über alle Betriebe besitzen, die Zonenplanung in grossen Zügen fertig haben usw. Umgekehrt ist eindeutig, dass die Planungsarbeiten der Zentralverwaltung nur im Sektor feste und flüssige Brennstoffe bis zu den Betrieben durchreichen. In der Veredlungsindustrie ist man davon noch weit entfernt, auch in der Chemischen Industrie. Wirtschaftsverbände fehlen vollständig; man ist sich darüber klar, dass die Behörde allein der Planungsaufgabe weder personell noch sachlich gewachsen sein kann und versucht durch paritätische Ausschüsse (von Behörden berufene Vertreter von Industrie und Gewerkschaften bei den Handelskammern, die bekanntlich nur zu 1/3 die alten Mitglieder, zu einem weiteren Drittel die Gewerkschaften und dem letzten Drittel die Wirtschaftsbehörden selbst umfassen) zu arbeiten. Das steckt noch in den ersten Anfängen.
Die Planung besteht nach russischem Muster im Prinzip in der Festsetzung von Ablieferungssolls mit Terminen. Es fehlt noch an einem durchdachten System von Herstellungsanweisung, Rohstoffaufteilung und Ablieferung. S. bewegt sich hier in ähnlichen Gedankengängen wie wir, er ist sich auch klar darüber, dass auf vielen Gebieten der Grosshandel eingeschaltet bleiben muss. Nach der wirtschaftlichen Struktur in der Provinz Sachsen (Grossbetriebe mit verhältnismässig einfachen Programmen) ist dort ein berechtigter Optimismus hinsichtlich des Erfolgs des Planungssystems.
d) Verkehr und Post.
Zentralismus allgemein anerkannt und offenbar in guter Durchführung. Präsident Schröder interessierte sich besonders für unsere Verhältnisse und hatte von einem gleichen Standpunkt Gross-Hessens gehört.
e) Arbeitseinsatz.
Durch die Kontenblockierung, durch Dienstverpflichtung, durch politischen Druck, wenn auch nur im Sinne einer energischen Aufbaupropaganda, schliesslich durch die Stammeseigentümlichkeit der besuchten Länder, zähen Fleiss und Ordnungssinn ist der Arbeitseinsatz wohl ungleich erfolgreicher dort als bei uns. Betriebe, die zur Demontage kommen, entlassen alle Arbeitskräfte, diese werden von der SMA zu der Demontage selbst wieder eingesetzt und nach erfolgter Demontage liegen sie allerdings vielfach auf der Strasse dort, wo land- und forstwirtschaftliche Kräfte nicht mehr fehlen und keine Notstandsarbeiten auszuführen sind, z.B. in Orten wie Oberlungwitz (dem Strumpfzentrum).
Selbstverständlich gibt es auch eine verschleierte Arbeitslosigkeit. Arbeitslosenunterstützung wird noch nicht gezahlt.
Die Zusammenfassung der Referate Arbeit und Wirtschaft einerseits, gegenüber Handel und Versorgung andererseits, nach russischem Muster halte ich vorbehaltlich einer genaueren Durcharbeit für gut.
Bevölkerungsstatistiken liegen bereits vor. Männer zwischen 18 und 30 Jahren fehlen fast völlig. Zusammensetzung der Flüchtlinge wie bei uns, also Kranke, Alte, Frauen und Kinder. Starke Bevölkerungszunahme auf dem Lande, besonders von weiblichen Kräften. Männlich Jahrgänge unter 18 Jahren sehr stark. Präsident Friedrichs klagte, dass die Polen nachts Kranke über die Grenze schaffen.
Man macht sich systematisch Gedanken über Frauenberufe, weil man mit Recht davon ausgeht, dass eine ausserordentliche Zahl von Frauen auf die Ehe verzichten und einem geregelten Berufsleben zugeführt werden müssen. Besonders gute Erfolge hat man mit der weiblichen Verkehrspolizei, die besonders auch den Russen gegenüber viel erfolgreicher sein soll als männliche Polizisten.
f) Ernährung.
Die Durchschnittsration ist 200 g Brot, 10 g Fett, 30 g Nährmittel, 15 g Fleisch, 20 g Zucker am Tag ungefähr. Die Karte wird jedoch weitgehend nicht voll beliefert (Land Sachsen). Auf Zusatzernährung durch Hamstern ist die Bevölkerung angewiesen. Mit Textilien können die Bauern nicht mehr bestochen werden. Sie sind damit bis über den Hals eingedeckt. Jeder, der Ware produziert oder in einem solchen Betrieb tätig ist, wird sich so oder so Tauschware beschaffen, auch wenn die Produktion als solche auf Reparationen an die Russen geht. Sehr viel Ware soll durch die Aktion der Volkssolidarität aus den Betrieben herausgehen.
Über die Bodenreform habe ich keine eigenen Eindrücke. Die Landbestellung ist überall erfolgt. Der Gerätemangel soll erheblich sein. In der Provinz Sachsen sind 80 to an Stickstoff in die Erde gebracht. An anderen Stellen will man durch Häckeln und Häufeln den fehlenden Stickstoff zu ersetzen suchen (Arbeitseinsatzfrage). Die Stickstofferzeugung in Leuna wird nun allerdings zum grössten Teil demontiert.
Die Russen verlangen ausserordentliche Schnapsmengen, auch Finanzierung der Länder durch die Schnapssteuere. Hierfür werden nach übereinstimmenden Aussagen verantwortlicher Männer Kartoffeln verwendet (also nicht Melasse, wie Dr. Paul hier sagte, die natürlich auch für Ernährungszwecke noch ausgewertet werden könnte).
Alle Messebesucher wurden nach Karte 6 verpflegt (höchste Ernährungsstufe). In letzter Stunde entschloss sich die SMA noch, Zigaretten auszugeben, wodurch die Messe nahezu in Verwirrung geriet, weil sich die Besucher sofort zu entsprechenden Schlangen formierten, insbesondere auch die Besucher aus der russischen Zone selbst. Die offiziellen Essen waren, wie das auch bei früheren offiziellen Gelegenheiten in der russischen Zone festzustellen war, sehr üppig. Es hat mich persönlich direkt erschüttert, als mir ein sehr elend aussehender Kellner im Leipziger Ratskeller dieses Märchen aus 1001 Nacht für seine Begriffe flüsternd erzählte. Es ist gar kein Zweifel, dass die deutschen Funktionäre mit wenigen Ausnahmen einen ernsten und fleissigen Eindruck machen und dass ihre Leistungsfähigkeit und Energie durch Sonderzuteilungen aufrecht erhalten werden müssen. Die Unterschiede zur übrigen Bevölkerung sind aber sehr krass.
g) Demontage.
Die Welle der Betriebsausbeuten hat zur Zeit wieder einen Höhepunkt. Alle Bahnhöfe und unzählige Fabrikhöfe sind voll gestopft mit den bekannten Kisten. Man sah auch an sehr vielen Stellen grosse Mengen neuer Kabeltrommeln. Die zweiten Geleise der Eisenbahn sind weitgehend jetzt abgebaut worden, zum Teil werden auch im ganzen Bahnstrecken abgebaut, z.B. auch ein reines Industriegeleise zu einem Kaliwerk bei Ronneburg. Die Hochspannung ist nicht nur vielfach demontiert, sondern man sieht auf den Feldern und an den Strassen die gekappten Masten liegen. Die elektrische Oberleitung zwischen Saalfeld und Halle-Bitterfeld ist demontiert. In Leuna wird ein grosser Teil der Stickstoffkapazität abgebaut. Die Luftschutzhochbunker will man sprengen, obwohl sie für Lagerzwecke verwendbar wären. Die Sprengungen werden neue Sekundärschäden bei den benachbarten Werksanlagen hervorrufen. Die Methanolanlage wird bis auf 5 % der Kapazität abgebaut. Damit haben wir mit Ausnahme von Ludwigshafen – Oppau keine Methanol-Erzeugung mehr in Deutschland (abgesehen von Kleinigkeiten, etwas Holzverkohlungsverfahren). In Zwickau sah ich die völlig leeren Hallen der Autounion. In Oberlungwitz sind die beiden grössten Strumpffabriken Bahner und Roge demontiert und, was beinah noch schlimmer ist, die einzige Strumpfmaschinenfabrik von Lieberknecht. Dagegen ist von Spinnereien noch nicht viel abgebaut, eine gewisse Oase ist Crimmitschau. Die Landespräsidenten von Thüringen und Sachsen sagten beide sehr definiert, dass die Russen das endgültige Ende der Demontage erklärt hätten. Solche Erklärungen seien früher in dieser Form nicht gegeben worden, weshalb man der Meinung ist, dass sie auch wirklich endgültig sind. In Kreisen der Industrie hat man kein Vertrauen, dass es zu Ende ist. Im gewissen Widerspruch zu den amtlichen Erklärungen steht der bevorstehende Volksentscheid im Lande Sachsen, der schon seiner Zeit von Marschall Shukow genehmigt sein soll: Antrag des sächsischen Volkes, dass die demontierten Betriebe, insbesondere solche von Nazis im Lande verbleiben und dem Volk übereignet werden sollen.
Es wird viel davon gesprochen, dass Einrichtungen bei der Demontage direkt zerstört werden. Das scheint aber nur vereinzelt zu sein, wenn man von den erwähnten Hochspannungsmasten absieht. Die Demontagebefehle kommen direkt aus Moskau über die Truppe an die Fabriken, nicht nur die deutsche, sondern auch die russische Militärregierung wird davon oft überrascht.
h) Rohstoffe und Energie.
Die Kohlen- und Stromlage ist unverändert relativ günstig, bis auf den Steinkohlenmangel, für den das Zwickauer Vorkommen zu gering ist. Lokomotiven fahren weitgehend mit Braunkohle mit entsprechend geringen Leistungen und Störungen. In Thüringen wurde ein neues Steinkohlevorkommen entdeckt, das nach Angaben von Dr. Paul ausserordentliche Möglichkeiten bietet, aber nach Mitteilung von Präsident Friedensburg zu keinen besonderen Hoffnungen berechtigt.
Eisen und Stahl ist der grösste Engpass. Man sieht auch nicht recht, wie man darüber hinwegkommen soll, zumal der Industrieplan die russische Zone darin ganz vernachlässigt.
Baumwolle ist aus Russland in das sächsische Industriegebiet tatsächlich geliefert worden, das ist bisher aber auch alles. Alle Anhänger der dortigen Verhältnisse enden das wirtschaftliche Gespräch bezw. die naheliegenden Fragen damit, dass man schlimmstenfalls den wirtschaftlichen Anschluss an Russland benötigt, in jedem Fall aber Rohstoffe von dort. Es fehlt auch an Grubenholz, das wir von Hessen liefern könnten, vielleicht im Tausch gegen Briketts für die Hausbrandversorgung im Winter bei uns.
In der Chemie können wir auf den Austausch mit den mitteldeutschen I.G. Werken kaum verzichten. Dieser Austausch ist aber ganz offenbar schon gefährdet. Die Acetylenchemie läuft ganz auf Buna, sodass wir Essigsäure, Essigsäureanhydrid, Aceton, etc. nicht erwarten können. Über die prekäre Methanollage habe ich schon gesprochen. Mersol, das wir für Seife dringend brauchen, wird voraussichtlich in Leuna ganz zum Erliegen kommen, aber vielleicht in Wolfen aufrecht erhalten. Die Benzinherstellung in Leuna läuft voll. Die Schwefelsäurelage ist knapp. Fettsäure ist nicht mehr vorhanden. Böhme Fettchemie ist nicht demontiert und arbeitet voll aus Vorräten. Fettalkoholsulfonate wären insoweit noch lieferbar. De Versuche, Insulin herzustellen, sind angesichts der Schwierigkeit dieser Fabrikation problematisch. Die Einrichtungen der Solvay-Werke sind vollständig abgebaut worden, sodass die bedeutendste deutsche Sodaerzeugung stilliegt. Es ist nur wenig Soda in Eisenach zu haben, die allein von der Industrie hochwertiger Gläser aufgenommen wird. Damit ist die Waschmittellage sehr ungünstig. Da man bei der Demontage weder de Gebäude noch Apparaturen, die auch für unsere Zwecke verwendbar wären, schont, ist die Wiederherstellung wichtigster Kapazitäten vielfach von Neubauten, in den meisten Fällen auch von der Fabrikation neuer Apparaturen abhängig, angesichts der Metallversorgung und Demontage in den Maschinenfabriken auf absehbare Zeit eine unlösbare Aufgabe.
Wir werden aus dem Westen die industrielle Ausrüstung, auch die Ausrüstung der Verkehrsmittel, für die Ostzone bereitstellen müssen, wenn dies ohne Gefahr geschehen kann, dass die Lieferungen nach Russland abwandern.
i) Finanzen und Preise.
Von einer geordneten Bilanzierung und überhaupt finanziellen Übersicht kann in keinem grösseren Betrieb mehr die Rede sein. Kreditgewährung für notwendige Fabrikationen, d.h. in den allermeisten Fällen für Reparationslieferungen ist grosszügig. Das starre Preisstopprinzip wird allenthalben proklamiert, aber die Durchführung ist noch erheblich weniger erfolgreich als bei uns. Von einer geregelten Preisüberwachung und einer flexiblen Behandlung der Preisbildungsanträge kann man nicht sprechen. Herr Ulbricht (SED) erklärte mir auf meine Frage, dass man unser Prinzip, die Herstellung von Gebrauchsartikeln aus Schrott zu Selbstkosten zu gestatten, auch wenn der Preis über der normalen Serienfertigung der Artikel liege, ablehne. Entweder müsse der alte Preis für Serienartikel genommen werden oder unterbleiben. Tatsächlich hatte ich Gelegenheit im Audiwerk, Zwickau, das von Arbeitern geleitet wird, die gegenteilige praktische Erfahrung zu machen. Ich sah dort Gebrauchsartikel aus Schrott liegen und fragte nach dem Preis. Er wurde mit einem mehrfachen des normalen Preises genant. Auf meine Frage nach der Genehmigung wurde erwidert, dass dieser Preis von jedem gerne gezahlt würde. Soweit die Textilindustrie arbeitet, scheint man andererseits, wie bei uns, vorläufig noch über die Selbstkosten hinaus sogar einen Gewinn zu gestatten.
Die Sperre alter Konten wird offiziell als mangelhaft, aber immerhin als notwendige Teillösung des Geldproblems bezeichnet. Das geht so weit, dass Präsident Buschmann sich praktisch auf den Standpunkt der Devisengrenze gegenüber den anderen Zonen stellt. Er erklärte mir, dass man nicht zulassen könne, dass der Westen mit seinem schlechten Geld die guten Waren der Ostzone auskaufe, oder dass umgekehrt mit dem guten Geld der russischen Zone entbehrliche Ware des Westens aufgekauft würde. Andererseits ist der Geldüberfluss in der russischen Zone, insbesondere an Besatzungsmark, in allen Kreisen offensichtlich, die nicht nur von ihrer Hände Arbeit leben.
k) Betriebsrat und Gewerkschaft.
Die sog. Demokratisierung dere Betriebe (Herrschaft der Betriebsräte, d.h. SED-Funktionäre, die nicht auf freier Wahl beruhen) spielt nur dort eine Rolle, wo nicht die Betriebsleitung selbst bereits als politisch vertrauenswürdg gilt. Der Betriebsführer des Leuna-Werkes erklärte mir, dass er mit seinem Betriebsrat sehr gut zusammenarbeite, von einem Mitbestimmungsrecht kann dort angesichts der Schwierigkeit der Materie auf seiten des Betriebsrats wohl auch nicht die Rede sein. In einigen Textilbetrieben, deren Leitung noch nicht der SED verpflichtet ist, muss die Betriebsleitung sich sehr viel gefallen lassen. Ich fragte Herrn Ulbricht (SED) nach seiner Einstellung hinsichtlich des Mitbestimmungsrechts der Betriebsräte. Erstaunlicher Weise erklärte er ganz offen, dass dies selbstverständlich ein Unfug sei. Die Betriebsleitung müsse allein bestimmen. Er soll dies auch in öffentlichen Versammlungen gesagt haben mit dem Bemerken, dass natürlich vorerst die Betriebsleitungen zu bereinigen sind. Zynischer kann man kaum aus autoritativstem Munde der KPD hören, dass da, was bei uns von kommunistischer Seite aus geschieht, nichts anderes ist als das sogenannte illegale Arbeiten. Die KPD weiss selbstverständlich, dass kein Betrieb funktionieren kann, wenn nicht die Betriebsleitung die volle Autorität hat. Soweit sie unter dem Schlagwort der Wirtschaftsdemokratie einen anderen Standpunkt vertritt, kann dies nur bedeuten, dass man auf diesem Wege eben Verwirrung stiften und die Betriebsleitungen sich politisch gefügig machen will. Wir haben keinen Anlass, uns diesem Spiel hier auszusetzen. Politische Konzessionen sind hier in keiner Weise zu vertreten, weil in der Sache eben die KPD ebenso wie andere denkende Menschen davon überzeugt sind, dass kein Betrieb laufen kann, wenn der Betriebsrat mit bestimmend tätig ist. Das schliesst nicht aus, dass der Betriebsrat auch zu wirtschaftlichen Fragen seine Meinung sagen soll und dass er in wichtigen wirtschaftlichen Entscheidungen nicht vor vollendeten Tatsachen stehen soll. Diese Prinzipien werden aber eher von den demokratischen Parteen als von der Einheitspartei verfochten.
Vielfach werden Betriebe von Arbeitern geleitet. Ich habe das selbst bei der Autounion in Zwickau gesehen, wo durch die Demontage allerdings nicht mehr viel zu leiten war. Selbst dort wurde ich auf meine Anmeldung bei der Werksleitung zunächst zum Betriebsrat geführt, der nicht da war. Ich hatte dann kaum bei einem Betriebsleiter, ebenfalls einem Arbeiter, Platz genommen, als der Betriebsrat erschien. Beide Funktionäre gaben bald zu, dass der Wiederaufbau ohne Fachleute und Zusammenwirken mit dem Westen unmöglich sei, und dass sie sich noch im Stadium der Einarbeitung befänden. Seidel & Naumann, Dresden, wird ebenfalls von Arbeitern geleitet. Ich habe das Werk nicht mehr sehen können, das mir quasi als Musterbetrieb von Vizepräsident Selbmann (SED) empfohlen wurde. S. verficht ernstlich die Meinung, dass Arbeiter industrieller Werke führen (nicht nur eine Zeit lang weiterführen) können.
In Leuna finden auch Betriebsvollversammlungen statt. Auch gibt es wieder einen Werkschutz, Betriebspolizei genannt. Schliesslich sah ich dort einen Anschlag mit der Aufforderung, anlässlich eines konkreten Vorfalles Saboteure des Wiederaufbaus anzuzeigen.
l) Propaganda.
Transparente, Stalin-, Lenin-, Molotow-, Thälmann-, Marx- und Engels-Bilder sieht man in vielen Fabriken und in vielen Orten und Wohnungen. Propaganda überall. Interessant war auch die Propaganda gegenüber dem Westen gelegentlich der Leipziger Messe, besonders in den Zeitungen. Die Leistungen der russischen Zone werden mit Zahlen und Schaubildern herausgestellt. Die Leistungen anderer Zonen sind weitgehend unbekannt. Es ist nicht einmal gestattet, gewisse Berliner Zeitungen in der Provinz zu halten. Der Radioempfang ist durch die Wegnahme der Radioapparate praktisch unmöglich. Selbst einsichtige Menschen haben keine Ahnung, was jenseits der Zonengrenzen vorgeht, z. B. dass wir Lebensmittel- und auch Rohstoffeinfuhren aus den USA bekommen, dass wir eine Planwirtschaft haben, dass wir kulturelle Leistungen haben. Die Zonenhetze, d.h. die Hetze gegen die Westzonen mit dem Vorwurf der Reaktion und Lethargie ist allgemein. Insofern konnte jeder Besucher aus dem Westen geradezu eine Missionstätigkeit erfüllen und von diesem Gesichtspunkt ist es beinahe unverständlich, dass die Messe mit der Folge stattfand, dass etwa 15 000 Menschen aus den Westzonen der mehrfachen Anzahl aus der Ostzone einige Wahrheiten mitteilen konnten.
m) Russen.
Während der Messe war offenbar Ausgangssperre für russisches Militär. Man sah nur Offiziere vielfach mit im westlichen Sinne sehr eleganten jungen Frauen, meist Ostarbeiterinnen, aber auch jungen Russinnen, die zum Teil rührend wirkten.
Die Unsicherheit ist allenthalben noch gross und wird immer gross bleiben, denn es ist einfach unmöglich, dass das russische Militär so erzogen werden kann, dass keine Pannen passieren. Senator Borgner aus Hamburg wurde das Auto abgenommen. Er hat es aber wieder bekommen. Ich selbst hatte auf dieser Reise nur einen kleinen Zwischenfall im Hotel in Chemnitz, wo mein Koffer in das Zimmer eines russischen Offiziers geraten war und mit Hilfe der russischen Wache nachts herausgeholt werden musste. Dem Portier allein war das nicht gelungen, er ist sogar von einem russischen Offizier geschlagen worden.
Die Russen sind sehr misstrauisch gegenüber den Deutschen und leicht verletzt. Dazu gehört auch, wenn bei offiziellen Veranstaltungen von deutscher Seite nicht ebenso viel Schnaps getrunken wird wie von russischer Seite. Da solche Veranstaltungen oft die ganze Nacht hindurchgehen und ein Trinkspruch den anderen ablöst, sind solche „Feste“ für den deutschen Beteiligten eine Tortur.
Verhaftungen durch die NKWD, ohne dass etwas ausgerichtet werden kann, sind offenbar immer noch an der Tagesordnung, insbesondere immer wieder von Deutschen, die im Offiziersrang waren. Das Banditenwesen spielt offenbar keine grosse Rolle mehr, wenn auch die Desertationen eine Rolle spielen. Die Schneider aller Städte müssen Zivilkleider für russische Militärs machen. Die militärische Disziplin ist scharf, die Unterschiede zwischen Offizieren und Mannschaften in jeder Weise krass. Die Beschlagnahme von Wohnungen und Möbeln dürfte die leider auch nicht erfreulichen Verhältnisse in der US-Zone nicht übertreffen.
Der kulturelle Einfluss auf Film, Theater und Presse von seiten der Russen ist unzweifelhaft stark und von beachtlichem Niveau.
n) Deutsche Parteien.
Diese Frage ist immer wieder besonders interessant hinsichtlich der Entwicklung zum Einparteienstaat. Ich habe mich eingehend mit wichtigen SED-Männern wie Ulbricht,
Das wäre aber gleichbedeutend mit einem Fallenlassen der für diese Politik mit verantwortlich gemachten SED.
3. Zusammenfassung.
Mein beherrschender Eindruck auf dieser dritten Reise war, dass die politische Führung in der Ostzone (SMA – SED – KPD) mehr Angst vor dem Gift des Westens (Demokratie) hat als der Westen vor der sogenannten unvermeidlichen Entwicklung zum Kommunismus. Der Einparteienstaat des Ostens kann sich nur in der Abschliessung entwickeln und nur darin kann der ungeheure politische Druck auf den Bajonetten der russischen Militärregierung ganz wirksam werden. Es ist falsch, die Abschliessung zur sogenannten Selbsterhaltung zu propagieren. Jeder einzelne, der aus dem Westen in den Osten einreist, hilft der dortigen Mehrheit, die den Einparteienstaat nicht will. Es ist nicht nur so, dass die Funktionäre der Ostzone der dortigen Bevölkerung und den Besuchern aus dem Westen etwas vorzumachen suchen. Vor allem machen sie sich gegenseitig etwas vor und wiederholen damit auch darin alles das, was wir im Nationalsozialismus erlebt haben. Neben offensichtlichen Renegaten und Opportunisten, die sich dem Einparteienstaat verschrieben haben, hat mich eine grosse Zahl der Funktionäre charakterlich und im Arbeitsernst durchaus beeindruckt. Aber es ist das Bild der Doktrinären, die sich selbst etwas vormachen und sich an die vage Hoffnung klammern, dass das grosse Russland die künftige Mutter sein wird. Unendlich viele andere haben sich ein unabhängiges Denken bewahrt. Die grosse Masse verelendet und ist noch kritisch genug, in den neuen Verhältnissen wesentliche Ursachen dieser weiteren Verelendung nach dem Zusammenbruch zu erkennen. Dass viele dabei doch immer noch auf das Bessere hoffen, ist menschlich verständlich. Ich kann nur wiederholen, dass jede Reise dorthin einer Missionsreise gleich zu stellen ist. Was dort entschieden wird, entscheidet auch unsere Verhältnisse hier und darüber hinaus im weiteren bis zum ferneren Westen. Wenn wir uns nicht jetzt darauf besinnen, dass wir in der Ostzone uns gegen den Einparteienstaat wenden müssen und auch wenden können, dann ist uns politisch überhaupt nicht mehr zu helfen. Ich sehe es heute beinahe als weniger wichtig an, den Kommunismus in der Westzone auszuschalten als ihm in der Ostzone entgegen zu arbeiten, wobei ich unter Kommunismus die russische Prägung des autoritären Einparteienstaates verstehe. Unsere Stellung im Westen ist unendlich viel stärker als wir glauben. Der geistige Hunger der Bewohner der Ostzone nach dem, was wir hier schon tun oder bieten können, ist sehr gross. Zeitschriften wie Die Gegenwart, Die Wandlung oder die Frankfurter Hefte, unsere neuen Wirtschaftszeitschriften, Zeitungen wie die Main-Neckar-Zeitung, Die neue Zeitung, könnten eine ungeheure Wirksamkeit und Hilfe in der Ostzone bedeuten. Ausser in Berlin erhält man sie nicht und selbst da nur mit Schwierigkeiten. Den kulturellen Austausch können wir am ehesten mit der Ostzone pflegen. Oberbürgermeister Zeigner, Leipzig, ist auch sehr interessiert an einem Austausch der Erfahrungen in der kommunalen Selbstverwaltung. In Hamburg ist er schon gewesen, wir sollten ihn einmal nach Frankfurt einladen. Der Präsident der Justizverwaltung, Schiffer, würde sich sehr über eine Einladung zu uns oder zum Länderrat freuen. Auf dem Gebiet der Wirtschaft müssen wir trotz der in jeder Weise negativen Aussichten immer wieder versuchen, die unmöglichen Bestimmungen gegen den Interzonenhandel zu durchbrechen. Vom praktischen Erfolg der nunmehr auf den 3. und 4. VI. vorgeschlagenen Interzonenkonferenz in Berlin, die
Quelle: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 1126, Nr. 15b, Bl. 225r-240r (ms. Ausfertigung).