Weimar. / Großherzogl. Hof=Theater. / Sonntag den 20. April 1890. / Abonnement A. Nr. 57. / Tannhäuser / oder / Der Sängerkrieg auf Wartburg. / Oper in drei Aufzügen von Richard Wagner.
date:
Sunday, 20. Apr 1890
date (classification in time):
1890-1895
performance site:
Weimar, Hoftheater
order:
1
number of acts:
3
review:
Weimarische Zeitung Nr. 106, 7. Mai 1890, S. 1: „Es ist eine durch den Zeitgeschmack aufgedrungene Thatsache, daß die großen Opern – eigentlich braucht man nur noch Wagner=Opern zu sagen – weit öfter gegeben werden, als der Leistungsfähigkeit der Künstler und der wahren Empfängnißfähigkeit des Publikums heilsam ist. [...] Auch hier in Weimar sind LOHENGRIN und TANNHÄUSER seit Jahren als Zug=, ja sogar als Einwurfsopern gebraucht worden und es zeugt von dem künstlerischen Sinne unserer Bühnenleitung, in die wir hierbei auch unsern langbewährten Wagner=Dirigenten Lassen anerkennend einschließen, daß sie eine Neubelebung des TANNHÄUSER durch die mit frischer Begeisterung herantretenden jungen Kräfte unserer Oper veranlaßten. Kapellmeister Richard STRAUß hat der Aufführung durch vorzügliches Einstudiren das volle Gepräge seiner genialen künstlerischen Auffassung verliehen und Sänger, Chor und Orchester sind ihm mit einer Hingabe gefolgt, die uns immer wieder als ein kolossales Vermächtnis Lisztschen Geistes ergreift und den weimarischen Kunstleistungen einen wahrhaft weihevollen Ausdruck verleiht. Herr STRAUß hatte den TANNHÄUSER fast ohne Strich wieder hergestellt und damit den Dimensionen des Werkes wieder zu ihrer imponierenden Größe verholfen; nur das Vorspiel vor dem 3. Akte ist zu lang und leidet an einem Fehler, der sonst Wagner nirgends eigen ist: es erweckt nicht mit zielbewußter Gliederung die Stimmung für die folgenden Szenen, sondern deutet etwas farblos darüber hinaus; irren wir nicht, so hat Wagner selbst den kleineren üblichen Strich darin gebilligt. Am großartigsten gestaltet sich jetzt der Aufbau des zweiten Finale; das innerste Erfassen seiner reichen musikalisch=dramatischen Gliederung, die Wirkung jeder Einzelnheit, war da mit einer Wahrheit und Wärme empfunden und mit einer dynamischen Feinfühligkeit in der musikalischen Ausführung wiedergegeben, daß der Geist Wagners durch das Haus zu wehen schien. So harmonisch wie hier gestaltet sich die Straußsche Auffassung jedoch noch nicht in allen Theilen. Wir sind durchaus keine engherzigen Tempi=Nörgler. [...] Hier aber steht Herr Strauß vor einer Klippe, die ihm vielleicht seine eigene musikalische Schaffenskraft aufbaut: er betont im Wagnerschen Werk manchmal geradezu leidenschaftlich, was seinem Empfinden am entsprechendsten ist, und dies ist immer: das Charakteristische. [...] So aufdringlich dürfen die Accente des Venusberges nicht in unsere Ohren gellen; das ist keine sinnliche Gluth mehr, sondern das sind einzelne Feuerbrände, die, mit ihrem grellsten Licht in die Ouverture geschleudert, die Verhältnisse derselben verändern – ja verzerren, denn der feierlichen Frieden athmende Pilgerchor erleidet um des Kontrastes willen Veränderungen und Dehnungen im Tempo, welche von Wagner nicht gewollt sind.
Von Wagner nicht gewollt – da sind wir an dem springenden Punkt, welcher die Jetztzeit von unserer Weimarischen Wagner=Tradition scheidet. Herr Strauß gehört dieser Jetztzeit an; er folgt der Richtung, die von Bayreuth aus gegeben wird und welche heißt: es kann alles Gefühlvolle und Pathetische gar nicht langsam genug sein. Möglich, daß der ALTE Wagner [...] noch die Parole der überlangsamen Tempi ausgegeben hat; das feierlich mystische Pathos des Parsifal=Schöpfers hat für uns aber keine Gewalt über die frisch blühende melodische Schönheit des TANNHÄUSER und daß gerade hier in Weimar wir ein Recht haben, an der Tradition von 1849 festzuhalten, das folgern wir aus dem Briefwechsel Wagner=Liszt. Man lese dort, mit welchem Ernst beide Männer über Auffassung und Tempi der Opern von Wagner verhandeln; wie Liszt mit ganzer Hingabe sein Genie der Reproduktion in Wagners Intentionen aufgehen läßt und mit welcher Bewunderung Wagner dieses Genie anerkennt. Herr Strauß darf, wenn er dirigirt, etwas vom Geiste Liszts in sich spüren, möge er nur aber immer dem Gebot seiner musikalischen Fähigkeit folgen, der innersten Wahrheit lauschen und darum wie Liszt eingedenk des edelsten Gottesgeschenkes bleiben, welches der Kunst verliehen ist: die Schönheit.“